Coriún Aharonián (Ed.) (2013)

La música entre África y América

Montevideo: Centro Nacional de Documentación Musical Lauro Ayestarán, 372 pp.


Rezensiert von Ricardo Amigo

Freie Universität Berlin


Musik – und Musikschaffende – stellen, angefangen von klassischen Studien (z.B. Melville Herskovits, Fernando Ortiz) bis zu neueren Arbeiten in der Perspektive der Cultural Studies (z.B. Paul Gilroy), eines der wichtigsten Objekte wissenschaftlichen Interesses in der Erforschung der afrikanischen Diasporas in den Amerikas dar. Entstanden im Rahmen einer gleichnamigen Tagung im September/Oktober 2011 am Nationalen Musikdokumentationszentrum Lauro Ayestarán (CDM) in Montevideo, versucht
La música entre África y América in diesem Zusammenhang, verschiedene Forschungsstränge zusammenzuführen und über die klassischen Zentren der Afroamerika-Forschung – USA, Karibik und Brasilien – hinausgehend auch die Region des Río de la Plata als konstitutiven Bestandteil der afrikanischen Diaspora in den Amerikas in den Blick zu nehmen.


La música entre África y América
besteht aus dreizehn Aufsätzen von Wissenschaftler/innen aus verschiedenen Ländern der Amerikas und Afrikas. Die Artikel sind in drei Sprachen verfasst (Spanisch, Englisch und Portugiesisch) und weisen mit historischen, kulturanthropologischen, musikethnologischen und musikwissenschaftlichen Perspektiven eine Vielzahl von methodischen und theoretischen Zugängen auf. Die ersten drei Texte behandeln allgemeine Aspekte der übergeordneten Thematik. So beleuchtet der Beitrag des renommierten ghanaischen Musikethnologen Joseph H. Kwabena Nketia anhand eines Rundblicks über die eigene Laufbahn das kreative Potential des afrikanischen kulturellen Erbes. Dieses verdeutlicht er selbstbewusst am Beispiel der Neuerschaffung von musikalischen Symbolen für das kürzlich unabhängig gewordene Ghana, deren Entwicklung ihm als führenden Experten für afrikanische Musik angetragen wurde. Im Gegensatz zu diesem persönlichen Zugang bietet der Beitrag von Anthony Seeger einen Überblick über die Geschichte der Begegnung von musikalischen Traditionen in den Amerikas. Trotz der gebotenen Kürze geht der Autor dabei auf die komplexe Gemengelage von musikalischen Traditionen auf den Ursprungskontinenten ein und verweist besonders auf die bisher wenig beachteten Austauschprozesse zwischen der indigenen Bevölkerung der Amerikas und versklavten Afrikaner/innen und ihren Nachfahren. Der einleitende Teil wird von einem geschichtswissenschaftlichen Artikel von Hermes Tovar Pinzón abgeschlossen, der mit einer Analyse von unterschiedlichen Initiativen zur Abschaffung des Sklav/innenhandels und der Freilassung (manumisión) von Versklavt/innen das Panorama von Machtungleichheiten und Gewalt andeutet, vor deren Hintergrund die musikalischen Prozesse zwischen Afrika und den Amerikas notwendigerweise betrachtet werden müssen.


Die restlichen zehn Beiträge sind regional weit gestreute Fallstudien, die sehr unterschiedliche theoretische Einflüsse widerspiegeln. So bleiben verschiedene der Texte der Suche nach afrikanischen Ursprüngen für musikalische Praktiken in den Amerikas –
Africanisms (Kazadi wa Mukuna über Brasilien) oder African residual strains (Portia K. Maultsby über die USA) – bzw. für bestimmte Instrumente (Jesús Guanche über Kuba) verhaftet oder versuchen in einer enthistorisierten Sichtweise, musikalische Praktiken in Afrika und den Amerikas zu vergleichen, ohne gegenwärtige Dynamiken in Betracht zu ziehen (Apollinaire Anakesa über Kamerun und Französisch-Guyana). Demgegenüber sind die Beiträge mehrerer Autor/innen aus Argentinien, Brasilien und Uruguay hervorzuheben, die aktuelle Prozesse in den Blick nehmen und hierbei die neueren theoretischen Entwicklungen in der Afroamerika-Forschung aufnehmen. Auf diese Weise betrachtet Reginaldo Gil Braga die Transnationalisierung der Batuque-Religion aus dem brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul anhand der grenzüberschreitenden Bewegungen von Trommelspieler/innen und rituellen Pat/innen als zugleich musikalischen und religiösen Akteur/innen. Norberto Pablo Cirio stellt an zwei Beispielen das lange von der nationalistischen Musikwissenschaft bewusst ignorierte Fortbestehen und die Retraditionalisierung der afroargentinischen Musik dar. Als erster von drei Artikeln zum afrouruguayischen Candombe untersucht Luis Ferreira in seiner Analyse bestimmter musikalischer Pulse im Millisekundenbereich die kognitiven, sozialen und performativen Dynamiken dieser Musik, die sich stark von den europäischen unterscheiden und die er sowohl auf einen afrikanischen Ursprung als auch auf unabhängige Entwicklungen in Afrolateinamerika zurückführt. Ebenso wie Cirio kritisiert Ferreira hier besonders die kolonialen Verhältnisse in der Wissensproduktion, die es bisher verhindert haben, adäquate Begriffe für die Analyse dieser Musiken zu entwickeln. Der darauf folgende Beitrag von Luis Jure ist der im engsten Sinne musikwissenschaftliche des Bandes. Der Autor versucht, generative Prinzipien für die musikalischen Figuren des Candombe zu definieren, ohne jedoch auf den sozialen Kontext der Praktik einzugehen. Im letzten der drei Beiträge zum Candombe analysiert Olga Picún die aktuellen Prozesse der sozialen Legitimierung und der damit verbundenen Bedeutungsänderungen des Candombe und der mit ihm assoziierten Praktiken. Sie kritisiert hierbei die Verwendung der Vorsilbe „afro-“ zur Bezeichnung von musikalischen Traditionen wie dem Candombe, da dies kaum zur Überwindung der auf Alltagsrassismus basierenden Exklusion beitrage, wohingegen der vorwiegend afrikanische Ursprung des Candombe auch ohne eine besondere terminologische Markierung kaum geleugnet werden könne. Abgeschlossen wird der Band durch einen Artikel von Kenneth Bilby, der die Verbreitungsgeschichte der Gumbe-Trommel von Jamaika nach Sierra Leone und von dort in urbane Zentren Westafrikas als Beispiel einer transatlantischen „Rückkehr“ nachzeichnet. Bilby nimmt hierbei sowohl auf dialogische Theorien des transatlantischen Austausches als auch auf das Konzept der Kreolisierung Bezug, das er trotz starker Kritik für ein wichtiges Handwerkszeug zum Verständnis von kulturellen Austauschprozessen hält.


Insgesamt zeichnet
La música entre África y América somit ein breites und aktuelles Bild unterschiedlicher Theoriestränge in der Erforschung des afrikanischen musikalischen Erbes in den Amerikas sowie in der breiteren Afroamerika-Forschung. Dementsprechend ist der Band sowohl als Einführung für Studierende als auch für Expert/innen von Interesse, die vor allem in den Beiträgen von Cirio, Ferreira, Picún und Bilby wichtige Anregungen für die Hinterfragung althergebrachter Gewissheiten über die Afrikanität von Musikkulturen in den Amerikas finden werden. Im Allgemeinen wird der Band jedoch dem umfassenden, im Titel formulierten Anspruch nicht im vollen Umfang gerecht. Hierzu wäre eine systematische Einleitung seitens des Herausgebers wünschenswert gewesen, die das Thema und die einzelnen Beiträge kontextualisiert und ihre Relevanz expliziert hätte. Nichtsdestotrotz hält La música entre África y América einer Diskussion, die bisher vorwiegend durch die klassischen Zentren der Afroamerika-Forschung bestimmt wurde, neue Verortungen entgegen. Damit wird einerseits die Zentralität von Musik für das Verständnis kultureller Prozesse zwischen Afrika und den Amerikas bestätigt und andererseits die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, translokaler Diskussionsstränge aufgezeigt, die einfache Einteilungen in (akademisches) Zentrum und Peripherie zunehmend erschweren.