Walter Mignolo (2012)

Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking


Princeton: Princeton University Press, 371 S.

 

Rezensiert von Eva Bräth

Freie Universität Berlin

 

 

Seit der Erstveröffentlichung im Jahr 2000 hat Walter Mignolos Local Histories/Global Designs nicht nur im Bereich der Lateinamerikastudien beträchtliche Aufmerksamkeit erfahren. Das Buch, das in die Kernkonzepte seines dekolonialen Denkens einführt, ist mittlerweile auch ein etablierter Referenzpunkt in der Auseinandersetzung mit postkolonialen bzw. dekolonialen Fragestellungen innerhalb der Sozialwissenschaften. Die Monografie des studierten Sprachwissenschaftlers, der sich durch eine transdisziplinäre Perspektive auszeichnet, hat wesentlich dazu beigetragen, die Perspektiven des lateinamerikanischen Forschungsnetzwerks Grupo Modernidad/Colonialidad einem breiten Publikum bekannt zu machen.

 

Unter diesem Namen zielen die Arbeiten von prominenten Geistes- und Sozialwissenschaftlern wie Aníbal Quijano, Enrique Dussel, Fernando Coronil und Walter Mignolo seit Ende der 1990er Jahre darauf ab, den konstitutiven Zusammenhang von Moderne und Kolonialität zu betonen. Kolonialität beschreibt die Hierarchisierung der verschiedenen Kontinente, welche politische, wirtschaftliche, kulturelle und epistemologische Aspekte umfasst. Diese Herrschaftsstruktur wird als andauerndes Phänomen begriffen, das auch nach Beendigung des administrativen Kolonialismus fortbesteht. Verbunden damit ist eine Abgrenzung von den angelsächsisch geprägten postcolonial studies, die den Stellenwert, den die Kolonisierung Lateinamerikas für die Globalgeschichte der Moderne besaß, zumeist ausblenden. Die Kritik der Grupo Modernidad/Colonialidad soll dadurch die Grundlage für eine Dekolonialisierung der Sozialwissenschaften schaffen. Ihre Überlegungen betten sich in einen analytischen Rahmen ein, der durch die Verbindung der Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins mit poststrukturalistischen Methoden sowie die Einbeziehung nicht-westlicher Wissenssysteme geeignet sein soll, globale Machtstrukturen zu konzeptualisieren. Local Histories/Global Designs ist ein (Zwischen-)Ergebnis dieser lateinamerikanischen Theoriedebatte.

 

Die sieben aufeinander bezogenen Essays, die von der Einleitung und einer weiterführenden Zusammenführung eingerahmt werden, stellen die epistemologische Dimension von kolonialistischen Machtbeziehungen in den Mittelpunkt. Es geht um nicht weniger, als „Makronarrative aus Perspektive der Kolonialität schreiben“1 (22) – den „[...]‚ abstrakten Universalismus‘ moderner Erkenntnistheorie und Globalgeschichte zu verdrängen“2 und sich stattdessen auf ein Netzwerk lokaler Geschichten zu beziehen (22). Untrennbar damit verbunden ist Mignolos Kritik an der Vorstellung eines universalen und neutralen Wissenssubjektes, von der die europäische Philosophie im Anschluss an Descartes geprägt ist.

 

Wie er im Vorwort der Neuauflage pointiert argumentiert, war Local Histories/Global Designs in erster Linie ein Versuch, Geschichtsschreibung zu dekolonisieren sowie Ausdrucksformen zu legitimieren, die im Zuge imperialistischer Erkenntnistheorie unsichtbar gemacht wurden (xiv). In Referenz auf eine beeindruckende Fülle von Autor_innen aus aller Welt entwickelt Mignolo dabei seine Konzeptualisierung von Okzidentalismus, kolonialer Differenz und border thinking, die in Kapitel 1 ausführlich erläutert werden. Als Eckpfeiler der Argumentation tauchen sie in allen Kapiteln auf: um das Verhältnis zwischen postcolonial studies und „postokzidentalistischen“ Beiträgen von lateinamerikanischen Autor_innen wie Leopoldo Zea, Edmundo O´Gorman und Roberto Fernández Retamar zu diskutieren (Kapitel 2); die Lateinamerika- und Karibikbilder im Diskurs der Moderne und den Gegendiskursen von José Carlos Mariateguí, Rudolfo Kusch und Fernando Ortíz zu beleuchten (Kapitel 3); das Verhältnis von geohistorischem (Sprech-)Ort und Wissensproduktion anhand der subaltern studies aufzuzeigen (Kapitel 4); über Modelle von Sprache und Erkenntnistheorie zu reflektieren, die nationalen und kolonialen Logiken entsagen (Kapitel 5 und 6) sowie die modernisierungstheoretischen Fortschrittsnarrative „Zivilisation“ und „Globalisierung“ herauszufordern (Kapitel 7).

 

Die Ausgangsthese des Buches, die sich als roter Faden durch alle Kapitel zieht, lautet im Anschluss an Dussels Modernekritik und Quijanos Konzept der Kolonialität, dass sich mit der Herausbildung des modernen Weltsystems im 16. Jahrhundert nicht ,nur‘ die Entstehung der kapitalistischen Weltwirtschaft vollzog. Darüber hinaus ging die Kolonisierung Amerikas laut Mignolo mit der Formierung einer hegemonialen Erkenntnisperspektive einher, aus der in der Folgezeit alle Erdteile klassifiziert und bewertet wurden: dem Okzidentalismus (13, 59). Hauptgegenstand des Buches sind die Wirkungsweise und Folgen der okzidentalistischen Mechanismen, die Hierarchisierungen und Subalternisierungen ,nicht-westlicher‘ Wissenssysteme bewirken (ix, 12). Mignolo fasst diese konzeptionell als koloniale Differenz – als Ort, an dem die Machtstruktur der Kolonialität wirkt (ix) und Unterschiede in Werthierarchien übersetzt werden (13).

 

Die zweite Argumentationslinie, die verfolgt wird, widmet sich dem widerständigen Potential dieser subalternisierten Wissensformen, die die hegemoniale Sprecher_innenposition westlicher Akademiker_innen verstärkt herausfordern (13). Auf der Suche nach Möglichkeiten, koloniale Sprache und Wissensproduktion zu überwinden, führt Mignolo die alternative Denk-, Sprech- und Äußerungsform des border thinking ein. Dieses Konzept basiert im Anschluss an die Chicana-Autorin Gloria Anzaldúa auf der Idee, dass in Grenzräumen ein besonderes Potential freigesetzt wird, die Welt nicht in abgeschlossenen, voneinander abgrenzbaren Kategorien zu sehen, sondern Verbindungen und Schnittstellen herzustellen. Border thinking erwächst aus den Brüchen in der okzidentalen Rhetorik des modernen/kolonialen Weltsystems (23), die sichtbar werden, wenn der universalistische Diskurs der Moderne mit lokalen Narrativen zusammentrifft (40). Als prominentes Beispiel führt Mignolo die Zapatisten an, die sich in einem „Epistemologien-überschreitenden Dialog“3 marxistische Prinzipien und westliche Demokratievorstellungen aneignen und in ihre Kosmologie übersetzen (85).

 

Wichtige und zugleich viel kritisierte Voraussetzung des border thinking ist es laut Mignolo, aus der subalternen Position der Kolonialität heraus zu reflektieren und zu kritisieren (45, 310). Weltsystemtheoretische, marxistische und postmoderne Theorieinterventionen seien nicht in der Lage, die okzidentalistische Logik zu durchbrechen, da sie als interne Kritik im Modernediskurs verhaftet seien (37, 87). Problematisch ist diese These insofern, als sie in eine homogenisierende Gegenüberstellung von europäischer und nicht-europäischer Wissensproduktion münden kann, ohne Differenzierungen und Marginalisierungen innerhalb der beiden Kontexte zu beleuchten. Obgleich dies nicht die Intention Mignolos ist: Er hebt explizit hervor, dass er kein hegemoniales Gegennarrativ etablieren, sondern eine Vielfalt lokaler Geschichten sichtbar machen möchte (22). Und dies ist ihm sicherlich auch gelungen: Indem er zahlreiche Theoretiker_innen anführt, die in den Sozialwissenschaften der Metropolen kaum rezipiert wurden, trägt Local Histories/Global Designs zu einer Öffnung dieser Disziplinen bei. Darüber hinaus regt das Buch durch die Vernetzung von Konzepten, die zuvor nicht in Bezug zueinander gesetzt wurden, einen Dialog dieser lokalen Geschichten an.

 

2012, zwölf Jahre nach der Erstveröffentlichung, ist eine Neuauflage erschienen, in der Mignolo in einem neuen Vorwort die Motivation und Zielsetzung des Buchs verdeutlicht und gegenüber Kritiker_innen zu stärken versucht. Mignolo legt den Fokus dabei auf das Dekolonisierungspotential von border thinking, das mit nahezu missionarischem Impetus angepriesen wird: kritische Interventionen von Akteur_innen, die aus Grenzperspektiven eingebracht werden und dadurch althergebrachte Logiken in Frage stellen, sind laut Mignolo „die Seins- und Denkweise der im Entstehen begriffenen politischen Globalgesellschaft“4 (xxii). So begrüßenswert dies sein mag, werden leider kaum Anhaltspunkte für diese positive Zeitdiagnose gegeben.

Dennoch enthält die Neukommentierung des Autors wichtige Hinweise auf die Weiterentwicklung seiner Ideen: beispielsweise auf die Kategorie body-politics of knowledge. Hatte Mignolo die Kontextgebundenheit von Wissen in Local Histories/Globals Designs auf den geopolitischen Sprechort bezogen, von dem aus eine Aussage getroffen wird, schenkt er in den Folgepublikationen der Subjektposition innerhalb von gesellschaftlichen Machtgefügen erhöhte Aufmerksamkeit5. Deutlicher als in der Erstausgabe hebt er hervor, dass sein Dekolonisierungsprojekt alle Grenzen betrifft, die Moderne und Kolonialität trennen und zugleich aufeinander beziehen: rechtliche, psychologische, sowie auf Gender und rassistische Klassifikationen bezogene Grenzziehungen (xvi). Eine Dekolonisierung des Wissens erfordert es auch, in Körper eingeschriebene koloniale Klassifizierungen sichtbar zu machen und herauszufordern (xiv). Damit eröffnet Mignolo eine Möglichkeit, Differenzierungen innerhalb von geopolitisch definierten Entitäten konzeptionell zu fassen, anstatt eine binäre Unterscheidung zwischen ,dem Westen und dem Rest‘ zu vertreten.

 

Bedauerlich ist, dass Mignolo die Rezeption des Buchs nur anreißt, die Kritik jedoch unbeantwortet im Raum stehen lässt (xviiif.). Leider nutzt er die Gelegenheit nicht, auf häufig bemängelte Aspekte – wie beispielsweise den Kritikpunkt, er blende die Ambivalenz der Moderne aus und setze sie mit Unterdrückung gleich – einzugehen. Eine solche Entgegnung wäre für Leser_innen, die sich mit seinem Werk auseinandersetzen, interessanter als die erneute Beteuerung des Potentials von border thinking. Den Beitrag den Local Histories/Global Designs zur Infragestellung von Strukturen epistemischer Gewalt leistet und bis heute lesenswert macht, schmälert das jedoch nicht.

 

 

 

 

 

1 „[...] building macronarratives from the perspective of coloniality.“

2 „[...] to displace the ‚abstract universalism‘ of modern epistemology and world history, while leaning toward an alternative to totality conceived as a network of local histories and multiple local hegemonies.“

3 „cross-epistemological conversation“.

4 „Border thinking is the way of being and thinking of the emerging global political society.“

5 Mignolo, Walter/Tlostanova, Madina (2006): „Theorizing from the borders. Shifting to geo- and body-politics of knowledge“. In: European Journal of Social Theory, 9, 2, S. 205-221.

Mignolo, Walter (2007a): „El pensamiento decolonial: desprendimiento y apertura. Un manifiesto“. In: Castro-Gómez, Santiago/Grosfoguel, Ramón (Hrsg.): El giro decolonial. Reflexiones para una diversidad epistémica más allá del capitalismo global. Bogotá: Siglo del Hombre Editores, S. 25-46.

Mignolo, Walter (2007b): „Delinking. The rhetoric of modernity, the logic of coloniality and the grammar of de-coloniality“. In: Cultural Studies, 21, 2, S. 449-514.