Juan Manuel Chávez (2013)

Latinos y otros peregrinos & Cuatro ciudades


Lima: Editorial San Marcos, Colección Ágora, 109 + 35 p.

 

Rezensiert von Christiane Quandt

Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin


Der 1976 geborene peruanische Autor Juan Manuel Chávez Rodríguez schreibt literarisch, wissenschaftlich und journalistisch. Während seine Romane sich noch an einen eigenen literarischen Ausdruck annähern, sind die essayistisch-journalistischen Publikationen, Limanerías (2012) und Latinos y otros peregrinos (2013) raffiniert komponiert. Die Texte sind als Kommentare eines Autors, als (Reise-)Notizen zwischen Konstruktion und Dokumentation angelegt, „mit dem Ziel, einen Habitus zu verstehen“1 (16). So verortet sich Latinos innerhalb einer alten Schreibtradition Lateinamerikas, den crónicas, und wendet sich sowohl an ein akademisches wie an ein interessiertes Laienpublikum.

 

Der Erzähler begibt sich in Latinos in die Rolle des reisenden Beobachters, der auf emotional-ästhetischer und intellektuell-analytischer Ebene seine Reisebeobachtungen in Europa und in Lateinamerika tagebuchartig beschreibt und kommentiert. Dabei spielt erstere Ebene eine doppelte Rolle, ist doch jedem Kapitel eine Fotografie vorgelagert, die mit der Reiseroute nicht immer direkt verbunden ist. Nicht nur durch die Bilder selbst, sondern auch durch die Zitate aus kanonischen Enzyklopädien auf deren Rückseiten sowie durch ein bemerkenswertes ‚Buch im Buch‘, entsteht ein Eindruck der Hybridität und Collage kunstvoll arrangierter Fragmente, die in ihrer Gesamtheit viele Fragen aufwerfen. Ziel der Reise ist zunächst Rom, das Zentrum des Katholizismus.

 

Den Einstieg bildet eine Antepalabra, die den Rücktritt von Papst Benedikt XVI. im Jahr 2013 als extraliterarischen Abschluss des Textes postuliert. Sowohl die daran anschließende Presentación wie die Epigraphen von Susan Sontag und John Banville beziehen sich auf die medialen Elemente des Werks: Wort und Fotografie. Sontags Reflexionen zur Fotografie dienen als Basis, die Verflechtung von Bild, Text und Zitat zu untermauern und die Bilder als „den graphischen Ausdruck einer Meinung“2 (16) zu werten. Nicht zuletzt werden hier auch die Zitate aus der Enciclopedia Universal Ilustrada, der Encyclopaedia Britannica und dem Gran Larousse Universal eingeordnet. Die augenscheinliche Objektivität der europäischen Enzyklopädien, so wird nach und nach deutlich, wird durch pointierte Kontrastierung der Einträge sowie (ironische) Kommentare radikal herausgefordert. Die Lücken und Unwuchten der als ‚Weltwissen‘ gespeicherten Informationen werden an so mancher Stelle offenbar. Obwohl die hybride Struktur zunächst etwas verwirren mag, wird doch bei gründlicher Lektüre dieses Hauptanliegen des Textes deutlich.

 

Mit dem Foto eines Reliefs aus dem Vatikan und einer Fülle an enzyklopädischem Wissen führt uns das erste Kapitel nach Rom. Einzelne Eindrücke, Landmarken, durchsetzt von Referenzen auf die Aktualität sowie der stetige Rückbezug auf das eigene Land stimmen ein. Gleich zu Beginn kristallisiert sich die persönliche Dimension heraus, die den Text zwischen intermedialem Experiment, Dokument und Fiktion ansiedelt. Die Stationen der Reise markiert die geographische Verortung der Erzählstimme, die den Leser aus verschiedenen Zeiten und Orten erreicht. Von Rom, Ravenna, Misano Adriático, Rimini, Florenz, Valencia, wieder Florenz und wieder Rom aus wird gesprochen. Und das nicht zufällig in der Osterzeit, denn es wird die Gretchenfrage nach dem eigenen Glauben gestellt, und das im Zentrum des Katholizismus, dem Vatikan.

 

Die Fotografien zwischen den Kapiteln dienen als assoziativ-emotionale Landmarken und die Einträge sind in einer Karwoche, nicht alle im gleichen Jahr, datiert. Über das Osterfest entspinnt sich eine Assoziationskette, die das Bild des Obelisken zum Gedenken an die Unabhängigkeitsschlacht von 1824, die Batalla de Ayacucho, kohärent macht. Während die ersten Fotografien den Ort der Enuntiation illustrierten, bricht das dritte Bild mit jener Regel. Und die Rückseite deckt auf frappierende Weise eine klaffende Leerstelle in den Enzyklopädien der ‚Welt‘ auf: Weniges findet sich über die Unabhängigkeitsschlacht, und – weitaus schockierender – nichts über den Sendero Luminoso und die Gewalttaten durch und gegen die Guerillabewegung, die ihre Anfänge in Ayacucho nahm. Hier wird die Asymmetrie im kanonischen Wissen des ‚Westens‘ offenbar. Drei große Enzyklopädien glänzen durch völlige Ignoranz. Die Leerstelle wird durch die beschriebene Collage-Strategie deutlich, denn der auf natürliche Weise assoziative Text des Reisenden steht im Gegensatz zu Bild und kommentierendem Zitatkonglomerat. Dieser Kontrast wiederholt sich beim Erzähler, der eine Audienz bei Papst Benedikt XVI. in Regen und Kälte erlebt. Joseph Ratzinger ist für ihn aus der Zeit gefallen, Relikt einer Vergangenheit von Inquisition, lateinischen Messen und Humorlosigkeit. Doch dem Erzähler fehlt nicht der Humor, wenn er auf die Eigenheiten des Papstes anspielt, der „dem Wetter nicht einmal ein freundliches Gesicht entgegensetzt, sondern eben das Gesicht, das seit seiner Jugend das seine ist“ (105)3. Und nun wird auch deutlich, inwieweit der Rücktritt des Papstes diesen Text beschließen kann; denn der europäischen Abenddämmerung entspricht die fahle Sonne Limas. Der ernüchterte Aufbruch in die Heimat, nach verweigerter Eucharistie, ist wie ein Aufbruch in die Zukunft, ungewiss und glanzlos, aber realistischer als die Ostermesse.

Doch endet damit nicht die Lesereise der Latinos. Das beigelegte Büchlein in Form und Größe eines Reisepasses, Cuatro ciudades, bildet einen Gegenpol zum im Wortsinn eurozentrischen Latinos. Cuatro ciudades besteht aus vier kurzen Texten, die ohne zwischengeschaltete Fotografien aufeinander folgen und umrahmt sind von Einleitung und Schlusswort. In einem mit Equipaje fotográfico betitelten Abschluss wird auch dieser Text durch Fotos ergänzt. Hier gibt es keine Brüche zwischen erzähltem und fotografiertem Ort. Das chilenische Valparaíso, das kolumbianische Cartagena, das ecuadorianische Cuenca und zuletzt das peruanische Cusco werden in Text und Bild in Szene gesetzt. Viel näher scheint bereits auf den ersten Seiten der Erzähler den Orten und Bildern. Es stellt sich eine Intimität ein, die in Latinos kaum vorhanden war, es wird nicht das fremde Europa verhandelt, sondern “Nuestra América”. Die Bilder finden Echo in den intimen Worten des Erzählers, die von der Beklemmung der Fremde, vemengt mit der Vertrautheit des Eigenen während der Reise zeugen. Stets positioniert sich der Text zu Europa und zeigt zugleich eine zärtliche Zuneigung zur Vielfalt Lateinamerikas.

 

Die Begeisterung für das Eigene bleibt sich aber der Idealisierung bewusst und wird durch das Wissen um die hybride Natur der Orte untermauert und zugleich in Frage gestellt. Zuletzt erfolgt der Brückenschlag nach Europa, zu Latinos, und die Reflexion über das Schreiben als Reise.

 

Je tiefer man in den Text einsteigt, desto mehr Ebenen eröffnen sich, auch wenn dies nicht sofort offenbar wird und auch auf den ersten Blick irritieren mag. Fragen nach Nationalität, Religion, der Beziehung zum Anderen und derjenigen zwischen Text und Bild, die sich je nach Blickwinkel unterschiedlich entfalten, werden verhandelt. Der Text liefert keine Antworten und richtet doch einen skeptischen Blick auf das ‚alte Europa‘, und einen voller Liebe auf den eigenen ‚magischen‘ Kontinent. Durch den persönlichen Erzählstil steht nicht die kognitive Ebene im Vordergrund, sondern die emotionale. Assoziativ und spontan, vor dem Hintergrund profunden Wissens um Geschichte und Kultur, entpuppt sich Latinos y otros peregrinos zusammen mit Cuatro Ciudades als Variation über Religion und Identität als reisender latino zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Kontinent – geleitet von individuellen Blicken und Affekten, die den Leser direkt einbeziehen. Die Lektüre lohnt, denn sie erweitert den europäischen Blick um den (dezidiert) lateinamerikanischen. Durch die hybride Gestaltung treffen einige Ebenen aufeinander, die sich ergänzen und nachdenklich machen, was das kanonisierte europäische „Wissen“ betrifft, und die neugierig machen auf das, was Lateinamerika dem entgegenzusetzen hat; darunter Latinos y otros peregrinos.

 

Bemerkenswert ist die Wahl des aktuellen Papstes Franziskus, die in der extraliterarischen Welt das Bild der europäischen Abenddämmerung gegenüber dem lateinamerikanischen Tag in Bezug auf Peregrinos zu illustrieren scheint. Womöglich beschließt dies vieldeutige Zeichen den Text: nun ist Lateinamerika Papst.

 

 

1 „[C]on el objeto de entender un hábito.“

2 „[L]a perspectiva gráfica de una opinión“.

3 „Al mal tiempo, Benedicto XVI no le puso buena cara, solo la cara que tiene desde joven […]“.