Julia Roth (2014)

Occidental Readings, Decolonial Practices: A Selection on Gender, Genre, and Coloniality in the Americas


Tempe (Arizona) and Trier: Bilingual Review Press and WVT [„Inter-American Stud-ies“ Series], 284 S.

 

Rezensiert von Laura Kemmer

Freie Universität Berlin

 

„If I was a painter, I’d be Frida Kahlo“. Was Pop-Ikone Madonna bereits 2005 ersehnt, inszeniert die deutsche Gala für Sahra Wagenknecht mit einer Fotostrecke pünktlich zum Wahlkampf 2013. In der Pose als Kultmalerin Kahlo habe sie ihre emotionale Seite entdeckt, so die Linke-Politikerin im Interview. Um ebendiese ‚Entdeckung‘ lateinamerikanischer Künstlerinnen und Intellektueller durch westliche Deutungsgemeinschaften („interpretive communities“, 4) geht es Julia Roth in dem 2014 erscheinenden Occidental Readings, Decolonial Practices (Bilingual Review Press und WVT). Der Untertitel des ursprünglich als Dissertation im Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der Humboldt-Universität verfassten Buches verrät dessen zentrales Thema. Am Beispiel der Essays der argentinischen Autorin Victoria Ocampo (Kap. III), des „gemalten Tagebuchs“ von Frida Kahlo (Kap. IV) und des testimonio der Aktivistin Rigoberta Menchú (Kap. V) aus Guatemala untersucht Roth das Zusammenspiel von Gender-, Genre- und Kolonialhierarchien.

 

Als „drei Modi der Intervention“ („three modes of intervention“, vgl. Kap. I) werden die von den Autorinnen verwendeten Genres zunächst eingeführt. Ocampo, Kahlo und Menchú zeigen Ungleichheiten zwischen Geschlechtern und zwischen‚ Orient und Okzident‘ auf. Gleichzeitig werden transnationale Allianzen geschmiedet (Ocampo), binäre Geschlechterrollen queer gelesen (Kahlo) und kollektive Narrative (Menchú) rassialisierter Subjekte als Form kultureller agency ausgerufen. Auf die Frage nach der Verbindung zwischen diesen in Bezug auf eurozentrische Kategorien von ‚Klasse‘ oder ‚Herkunft‘ scheinbar so unterschiedlichen Autorinnen, gibt Roth eine überzeugende Antwort. Alle drei greifen über das jeweils gewählte Genre ebenjene Machtbeziehungen an, welche sie als subalterne Objekte positionieren. Es geht also um mehr als die Kritik „okzidentalistischer Lesarten“: Roth versteht „dekoloniale Praktiken“ als widerständische Akte in Form von Wort und Bild, welche die Normalität hegemonialer Wissensregime dekonstruieren und mit einer transamerikanischen Perspektive konfrontieren.

 

Dieser transamerikanische Anspruch begründet sich aus der Debatte um den ‚hemispheric turn‘ innerhalb der Area Studies, welche neben der dekolonialen Perspektive auf Gender und Genre den zweiten Schwerpunkt des Buches bildet. Weder die einfache Analyse von Differenzkategorien wie ‚Rasse‘, Klasse oder Geschlecht, noch der Fokus auf klassisch-nationalstaatliche oder regionale Einheiten reichen aus, so wird argumentiert, um die o. g. Machtasymmetrien zu beschreiben. Unter Bezugnahme auf aktuelle Forschungsprojekte begründet Roth das eigene Verständnis der „Amerikas als Verflechtungsraum“ – analog zum gleichnamigen Projekt am Bielefelder Zentrum für Inter-Amerikanische Studien (CIAS) – und den Ansatz „Interdependenter Ungleichheiten“ – wie im Forschungsnetzwerk desiguALdades.net an der Freien Universität Berlin entwickelt. Die im Buch besprochenen Praktiken artistisch-literarischer Intervention werden entsprechend unter Berücksichtigung historisch produzierter Verbindungen interpretiert.

 

Die drei Analysekapitel zu Ocampo, Kahlo und Menchú führt Roth in Kapitel II, „Tropical Tropes: Colonization as En-Gendering“, über zahlreiche Beispiele struktu-rell rassialisierter und geschlechtsspezifischer Repräsentationen ein. Ihre dekolonial-hegemoniekritisch-intersektionale Perspektive begründet die Autorin unter Verweis auf Konzepte kritischer Weißseinsforschung (hier insb. Toni Morrison) sowie der Okzidentalismuskritik (mit Fernando Coronil, Gabriele Dietze). Anhand dreier Differenzlinien werden die Dynamiken kultureller Wissensproduktion über und zwischen den Amerikas nachgezeichnet: (1) der christliche Proselytismus (Missionierung); (2) der zivilisierende Auftrag der Europäischen Aufklärung; (3) das nach dem zweiten Weltkrieg entstandene und mit der Jahrtausendwende wiederbelebte ‚Developmentalism‘-Paradigma.

 

Besonders erwähnenswert sind hier Gegenüberstellungen der ‚Erfolgsgeschich-te‘ einer konvertierten, verheirateten und ‚weiß‘-gemachten („whitened“, 22) Po-cahontas mit der durch Latina- und Chicana-Künstlerinnen und Intellektuelle als grenz-überschreitendes, transkulturelles Subjekt neu-interpretierten Malinche. Weitere eingängige Beispiele findet Roth u. a. in Shakespeares Der Sturm bzw. der dort gezeichneten Prospero-Caliban Konstellation (32-34), im historischen Disput von Valladolid bis hin zu den Reiseberichten Alexander von Humboldts (38-43) sowie in den Forderungen anti-kolonialer sozialer Bewegungen Südamerikas seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (48-53). In diesem Theorie- und Praxiswissen so gekonnt verbindenden Kapitel zeigt die Autorin eine methodologische Lösung für die Untersuchung der beschriebenen Sozialklassifikationen auf: Über die Einteilung nach ‚Genres‘ (35-36), so Roth, wird die literarische und künstlerische Produktion von Wissen hierarchisiert und entsprechend kolonialistische und sexistische gesellschaftliche Ausschlussmechanismen auf Sprecher_innenpositionen übertragen.

 

Gleichzeitig betont Roth die Verbindung von Frauen-Autobiografien, ‚Slave-Narratives‘ in den USA und den im Buch besprochenen lateinamerikanischen Genres, um auf das emanzipatorische Potenzial der Aneignung ebensolcher „master’s tools“ (9) zu verweisen. Die Frage, inwiefern solche dekolonialen Praktiken möglich sind, zieht sich als roter Faden durch die folgenden drei Analysekapitel, welche zunächst die individualistische Wahl des Essays als Kritikform durch Ocampo beleuchten, um dann auf die experimentelle, künstlerisch-literarische Mischform des Kahlo’schen Tagebuchs einzugehen und letztlich das subaltern/anti-literarische testimonio Ocampos zu beleuchten.

 

Für eigene Forschungsarbeiten oder Kulturprojekte birgt die auf Basis einer beein-druckenden Materialfülle ausgearbeitete methodologische Annäherung an das Zu-sammenspiel von Genre- mit Gender- und Kolonialhierarchien ein unvergleichliches Potenzial. Neben äußerst hilfreichen Einführungen zu Historie und Formen von Essay, Tagebuch und testimonio zeigen die zentralen Analysekapitel (III-VI) anhand von Inhalts- und Bildanalyse, unter welchen Bedingungen ein „kritisches Widersprechen“ („talking back“, 10) stattfinden kann. Während Ocampo über die Adressierung von Intellektuellen wie Virginia Woolf oder José Ortega y Gasset zum Dialog aufruft und Frida Kahlo eine alternative Lesart der eigenen Kunst verteidigt, wird am Beispiel der ‚Stoll-Menchú-Kontroverse‘ deutlich, wie mit dem emanzipatorischen Akt des Hinterfragens von Autorität und Repräsentativität die eigene Sprecherinnenposition angreifbar wird. Zwar kann die öffentliche Anschuldigung Menchús als ‚Lügnerin‘ durch den US-amerikanischen Anthropologen David Stoll als beispielhaft für diskriminierende Genre-Politiken gelesen werden. Letztlich hängt es jedoch von den Leser_innen ab, ob die in den literarisch-künstlerischen Zeugnissen enthaltenen, de-kolonisierenden Möglichkeiten kultureller agency ‚sichtbar‘ werden. Nicht zuletzt in Kombination mit den – insbesondere für ein deutsches Publikum äußerst illustrativen – Verweisen auf Praktiken der Rezeption in Medien, Kultur und Wissenschaft (vgl. insb. Kap. VI „Interlude: Tropical Tropes Reloaded? The Specters of Humboldt in Germany“) werden im Buch zahlreiche Möglichkeiten ebensolcher neuer, die ‚ande-re‘ Perspektive ernst nehmender Lesarten aufgezeigt. Jenseits gängiger okzidentalistischer Interpretationslinien von ‚kulturellen Unterschieden‘, ‚Kitsch-Multikulturalismus‘ oder ‚feministischer Selbst-Ermächtigung‘ ermöglicht die analy-tisch exzellente Aufarbeitung den Leser_innen das Hinterfragen eigener Parameter von Wissensproduktion.