Laura Matthew (2012)

Memories of Conquest. Becoming Mexicano in Colonial Guatemala

Chapel Hill: University of North Carolina Press, 318 S.


Rezensiert von Lasse Hölck

Sonderforschungsbereich 700, Freie Universität Berlin


Laura Matthew hat für ihr hervorragendes Buch einen Titel gewählt, der eine Einordnung in drei unterschiedliche Forschungszusammenhänge nahelegt. Erstens lässt sich das Werk eingliedern in die in jüngerer Zeit in Mode gekommene Erinnerungsgeschichte; tatsächlich werden Historiker, die selbst in dieser Richtung forschen und lehren, eine empirisch gesättigte Fallstudie zu ihrem Thema finden. Zweitens fügt sich das Werk in die neuere Kolonialgeschichte ein, denn die Autorin erzählt eine Geschichte der Eroberung und Kolonisierung Amerikas, die selbst Kennern neue Erkenntnisse bringen wird. Schließlich liefert das Buch einen Beitrag zur Ethnohistorie, wobei dieser schwierige Begriff klugerweise nur mit Vorsicht eingesetzt wird.


Die konsequente Aufmerksamkeit der Autorin für die mesoamerikanischen Bevölkerungen dürfte Altamerikanisten Freude bereiten. Laura Matthew beschreibt verständlich und elegant, wie und wann Nahua-sprachige Krieger und Familien aus zentralmexikanischen Regionen wie Tlaxcala, dem Hochtal von Mexiko oder Oaxaca in Allianz mit den Spaniern ihren Weg nach Guatemala fanden, dort Kämpfe gegen die ansässigen Mayabevölkerungen gewannen, die erste „spanische“ Siedlung in Zentralamerika namens Almolonga (Ciudad Vieja) gründeten und in ihr heimisch wurden, ohne die Erinnerung an ihre Herkunft aufzugeben. Von den sechs empirischen Kapiteln, die in einer kurzen Einleitung vorgestellt und in einer Schlussbetrachtung ausgewertet werden, sind dabei vor allem das dritte und fünfte überwiegend auf Quellen aufgebaut und nehmen den meisten Raum ein.


Die Arbeit ist gut recherchiert und wertet sorgfältig selektierte Dokumente aus zentralamerikanischen Archiven sowie dem Indienarchiv in Sevilla aus. Darüber hinaus präsentiert die Autorin gekonnte Deutungen verschiedener Bildquellen, etwa dem in jüngerer Zeit wieder entdeckten Lienzo de Quauhquechollan (Kapitel 3), die in guter Qualität abgedruckt sind und zusammen mit dem übersichtlich gestalteten Kartenmaterial das Buch bereichern. An mehreren Stellen verweist sie auf die aktuelle politische Bedeutung der indigenen Vergangenheit Guatemalas und bringt damit einen Gegenwartsbezug in ihre ansonsten strikt historischen Ausführungen ein, der Anschluss an weiterführende Debatten ermöglicht. In der guatemaltekischen Presse wird nämlich die vermeintlich mexikanische Herkunft mehrerer indigener Gemeinden kontrovers diskutiert, mit dem Ziel, etwaige Ansprüche einer indigenen Bewegung als „nicht-guatemaltekisch“ abzulehnen.


In den ersten beiden Kapiteln werden auf Basis der jüngeren Forschungsliteratur die verschiedenen Verbindungen zwischen Zentralmexiko und der Maya-Region von der klassischen Zeit Teotihuacans und der Maya-Metropolen Tikal und Copán bis zur Expansion des Aztekenreiches diskutiert. Im Zentrum ihrer Diskussion stehen dabei die Begriffe Tollan bzw. Tolteken, die von den mesoamerikanischen Kulturen als Referenz für zivilisierte (sesshaft-urbanisierte) Lebensweise herangezogen wurden. Eine bestimmte zentralmexikanische Ethnie war damit hingegen nicht gemeint.


Im zweiten Kapitel geht Matthew näher auf die „Eroberungsmuster“ der vorspanischen Zeit ein. Im Vorgriff auf die Ausführungen späterer Kapitel erkennt sie deutliche Ähnlichkeiten in der Anlage von Militärkolonien durch die expandierenden Tenochca des Hochtals von Mexiko, die mit nach regionaler Herkunft ausgewählten Kriegern und ihren Familien gegründet wurden.


Die nicht mehr ganz neue Erkenntnis, dass die mesoamerikanischen Gesellschaften eigentlich von ihren indigenen Nachbarn erobert wurden, die sich opportunistisch mit den Neuankömmlingen aus Europa verbündeten, wird von Matthew im dritten Kapitel veranschaulicht. Sie rekonstruiert die Eroberung Zentralamerikas aus Sicht der zentralmexikanischen Truppen anhand zweier bedeutender Dokumente, nämlich der erwähnten Bilderhandschrift des Lienzo de Quauhquechollan sowie einer umfangreichen Verwaltungsakte aus dem Archivo General de las Indias (mit der Signatur „Justicia 291“). Der ausführlich besprochene Lienzo erzählt piktographisch von der Marschroute der Krieger aus Quauhquechollan (Mexiko) nach Guatemala und ihren Kämpfen mit den dortigen Maya-Bevölkerungen, bei denen die Spanier allenfalls als Zuschauer auftauchten. „Justicia 291“ dokumentiert auf über 1.000 Seiten den Anspruch der Tlaxcalteken, Mexica, Mixteken, Zapoteken und anderer zentralmexikanischer Bevölkerungsgruppen auf Tributfreiheit als indios conquistadores. Diese Akte wurde von den Nachkommen der indigenen Eroberer noch bis ins 19. Jahrhundert sorgfältig aufbewahrt.


Kapitel vier bis sechs widmen sich der Kolonialzeit, in der diese Gruppen bemüht waren, ihre Vorteile als Nachkommen von indios conquistadores gegenüber der ansässigen Maya Bevölkerung zu bewahren. Im vierten Kapitel zeigt Matthews die Bedeutung der altepetl-Identität – der regionalen politischen Einheiten vorspanischer Zeit, aus denen die indigenen Eroberer ursprünglich stammten –, die etwa bei der Benennung einzelner Stadtviertel in Ciudad Vieja wie „Tascala“ (Tlaxcala), „Tenustitan“ (Tenochtitlan) oder „Chinampa“ (Xochimilco und umliegende Siedlungen im südlichen Seengebiet des Hochtals von Mexiko) Pate standen. Ihre These einer langsam voranschreitenden Homogenisierung dieser Gruppierungen zu Mexicanos im Verlauf der Kolonialzeit entwickelt Matthews im fünften Kapitel am Beispiel festlicher Aktivitäten, die von allen Stadtvierteln gemeinsam organisiert und durchgeführt wurden sowie anhand der kolonialzeitlichen Institutionen wie religiösen Bruderschaften (cofradías) und Milizen. Diese Tätigkeiten schufen demnach geteilte Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit als „Mexikaner“ in Guatemala. Im sechsten und letzten Kapitel beschreibt Matthew schließlich die fortschreitende Hispanisierung der ursprünglich Nahua-sprachigen Bewohner von Ciudad Vieja und diskutiert die partielle Umsiedlung der Stadt nach einem Erdbeben im Jahre 1773 bezüglich ihrer Auswirkung auf die gemeinschaftliche Identität der betroffenen Bevölkerung.


Insgesamt decken die Ausführungen in diesem Buch einen Zeitraum ab, der lange vor dem Auftauchen der Europäer einsetzt und durch die eingestreuten aktuellen Beispiele bis in die heutige Zeit hinein reicht. Da zudem der Großraum Mesoamerika berücksichtigt wird, machen diese Querverweise das Buch für einen Leserkreis interessant, der weit über den der Spezialisten hinausgeht.


Die theoretischen Grundlagen ihrer Studie behandelt Laura Matthews nur sehr kurz. Zwar verweist sie auf das Konzept des „kollektiven Gedächtnisses“ (Maurice Halbwachs) und auf das Konzept des Habitus (Pierre Bourdieu) als wichtige Inspirationsquellen, doch werden diese nicht weiter diskutiert. Angesichts der gelungenen Veranschaulichung einzelner Thesen dieser und anderer Sozialtheoretiker anhand ausgewählter Beispiele und umfassender Überblicke erscheint diese Auslassung jedoch nicht als ein gravierender Mangel.


Mit Memories of Conquest hat die Historikerin Laura Matthew von der Marquette University, Milwaukee (Wisconsin), ihre erste Monographie vorgelegt und dafür den renommierten Howard F. Cline Memorial Preis 2013 für herausragende Publikationen zur indigenen Geschichte Lateinamerikas gewonnen. Dieser Preis ist hochverdient.